Posts

»Novembertag« von Christian Morgenstern

Bild
Nebel hängt wie Rauch ums Haus, drängt die Welt nach innen; ohne Not geht niemand aus; alles fällt in Sinnen. Leiser wird die Hand, der Mund, stiller die Gebärde. Heimlich, wie auf Meeresgrund, träumen Mensch und Erde. »Novembertag« von Christian Morgenstern (1871 - 1914) Video: Christian Morgenstern: NOVEMBERTAG

»Lebt wohl« von Annette von Droste-Hülshoff

Lebt wohl, es kann nicht anders sein! Spannt flatternd eure Segel aus, Laßt mich in meinem Schloß allein, Im öden geisterhaften Haus. Lebt wohl und nehmt mein Herz mit euch Und meinen letzten Sonnenstrahl; Er scheide, scheide nur sogleich, Denn scheiden muß er doch einmal. Laßt mich an meines Seees Bord, Mich schaukelnd mit der Wellen Strich, Allein mit meinem Zauberwort, Dem Alpengeist und meinem Ich. Verlassen, aber einsam nicht, Erschüttert, aber nicht zerdrückt, Solange noch das heil'ge Licht Auf mich mit Liebesaugen blickt. Solange mir der frische Wald Aus jedem Blatt Gesänge rauscht, Aus jeder Klippe, jedem Spalt Befreundet mir der Elfe lauscht. Solange noch der Arm sich frei Und waltend mir zum Äther streckt Und jedes wilden Geiers Schrei In mir die wilde Muse weckt. »Lebt wohl« von Annette von Droste-Hülshoff

»Herbst« von Nikolaus von Lenau

Bild
Rings ein Verstummen, ein Entfärben: Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln, Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln; Ich liebe dieses milde Sterben Von hinnen geht die stille Reise, Die Zeit der Liebe ist verklungen, Die Vögel haben ausgesungen, Und dürre Blätter sinken leise Die Vögel zogen nach dem Süden, Aus dem Verfall des Laubes tauchen Die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen, Die Blätter fallen stets, die müden. In dieses Waldes leisem Rauschen Ist mir als hör' ich Kunde wehen, daß alles Sterben und Vergehen Nur heimlich still vergnügtes Tauschen. »Herbst« von Nikolaus von Lenau

»Verklärter Herbst« von Georg Trakl

Bild
Gewaltig endet so das Jahr mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. Rund schweigen Wälder wunderbar und sind des Einsamen Gefährten. Da sagt der Landmann: Es ist gut. Ihr Abendglocken lang und leise gebt noch zum Ende frohen Mut. Ein Vogelzug grüßt auf der Reise. Es ist der Liebe milde Zeit. Im Kahn den blauen Fluß hinunter wie schön sich Bild an Bildchen reiht - das geht in Ruh und Schweigen unter. »Verklärter Herbst« von Georg Trakl Weblinks: Georg Trakl Lyrik-Portal - www.georgtrakl.at Georg Trakl-Portal - www.georgtrakl.de Gedichte: Georg Trakl - Sämtliche Gedichte

»Die Welt ist weit« von Ingeborg Bachmann

Bild
Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land, und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt, ich habe von allen Türmen Städte gesehen, die Menschen, die kommen werden und die schon gehen. Weit waren die Felder von Sonne und Schnee, zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See. Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor. Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus, mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus. Die Fahrt ist zu Ende, doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen, jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen, jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt, in jedem Schatten zerriß mein Gewand. Die Fahrt ist zu Ende. Noch bin ich mit jeder Ferne verkettet, doch kein Vogel hat mich über die Grenzen gerettet, kein Wasser, das in die Mündung zieht, treibt mein Gesicht, das nach unten sieht, treibt meinen Schlaf, der nicht wandern will ... Ich w...

»Herbsttag« von Rainer Maria Rilke

Bild
  Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los. Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin, und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. »Herbsttag« von Rainer Maria Rilke »Herbsttag« ist ein symbolistisches Gedicht von Rainer Maria Rilke, das er im Jahre 1902 schrieb. Es findet sich in seinem Gedichtband »Das Buch der Bilder« und beschreibt in drei Strophen den Übergang von Sommer zum Herbst.